Das Wichtigste aus der Erfahrung der Isolation

Ein Kontrast verdeutlicht: Als ich 1952 aus der Schule kam, prophezeiten uns Lehrer: “In 50 Jahren ist das mit der Kirche alles vorbei”. Damals lächelten wir darüber, obwohl die Junge Gemeinde zu leiden hatten. Es war dennoch eine Blütezeit der Jungen Gemeinde. Wir zogen singend von den Veranstaltungen auf den Straßen nach Hause. Als die Stasi mich aber neun Jahre später in die Mangel nahm – allein -, war tatsächlich alles ganz schnell vorbei. Es gab weder einen ehrlichen oder wohlwollenden Gesprächspartner noch eine Bibel. Theoretisch wäre dies ja eine Situation, wo ein selbstbewusstes Individuum, wie es Ziel aller modernen Bildung und Gesetzgebung ist, sich bewährt und gestärkt daraus hervorgeht. Aber wer hat ehemalige Stasi-Häftlinge als Sieger aus der Haft gehen sehen?

Isolation ist hier mehr als Quarantäne. Alle bisherigen menschlichen Kontakte sind abgeschnitten. Das verunsichert. Als “Kriegskind”, das offenbar mit wenig Selbstvertrauen ausgestattet war, erlebte ich, völlig auf mich selbst gestellt, was ich unter ständigem Druck auf die Dauer mit meinen kleinen Schultern alles nicht ertrug. Gewissensgründe in der Wehrdienstfrage wurden als vorgeschoben bezeichnet. Und dann kein vertrauter Gesprächspartner, ein halbes Jahr lang nicht, selbst wenn ein
Mitgefangener in der Zelle war; – auch da wurde bespitzelt. Wenn ich mich mit dem Studentenpastor oder einem Freund hätte besprechen können, wäre vieles ganz anders gekommen. Aber das galt es ja gerade zu verhindern. Isolation ist bewusst als zermürbende Strafe eingesetzt, eine, die menschliche Würde zersetzen, liquidieren kann. Viele nennen diese Methode: Folter. Ich nenne sie: teuflisch und gottlos, skrupellos. In unserer Kultur sind Menschen nicht als seelische Krüppel oder Marionetten gedacht, sondern “als Bild Gottes”(1.Mose 1,27).

So waren Innerste Überzeugungen für mich nicht zu halten, auch wenn mitgefangene Freunde mit anderen Voraussetzungen das nicht so erlebt haben. Weil da für mich familiär und beruflich vieles dranhing, wurde ich depressiv, wie sich hinterher herausstellte. Durch das auferlegte
Schweigen haben diese erniedrigenden Erfahrungen weiter zersetzend gewirkt. Wir sollten ja als Staatsfeinde “ein für alle Mal kuriert” werden.

Dass ich nach dieser Extrembelastung wieder Vertrauen lernte mit anderen, das Aufstehen übte und das Singen, so dass ich Dienst tun konnte unter den Menschen einer Kirchgemeinde in dieser zerbrechenden Volkskirche, das ist – rückschauend – für mich wie für manchen anderen ein Wunder, wie die Bibel das nennt, einschließlich, dass meine Frau dies alles mit ausgehalten hat. Das gilt auch für die lange und mühsame Phase des Aufarbeitens und Aufschreibens! Die Auseinandersetzung mit dieser Gottlosigkeit war jedenfalls existentiell vorprogrammiert, wie mit dem Individualismus in Gesellschaft und Kirche. “Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei”, heißt es in der zweiten Schöpfungsgeschichte.

Dass die Seele überstrapaziert werden kann, “Burnout” sagen wir heute, durch einsamen Dauerstress, Leistungs- und Verantwortungsdruck, kennen wir auch in unserer freiheitlich, individuell geprägten Gesellschaft. Wir erleben es gelegentlich bei Lehrern, Politikern, Managern in der Wirtschaft oder sich scheidenden Ehepartnern, auch bei Depressionen, Süchten und Suiziden, Kranken und Alten. Die Einsamkeit nimmt stetig zu in unserer Gesellschaft. Vertraute sind überlebenswichtig! Von ihnen ist in “Such dir einen zweiten Mann” vielfach die Rede.

Als ich durch Freunde nach langer Zeit eines Tages wieder die Bibel in die Hand nahm, war es für mich befreiend zu sehen, dass sie nicht privat zu leben ist, sondern mit anderen. Nach allem eigenen Zerbrechen und dem der Großkirche heißt es nun, wo wir Minderheit sind, dieses – für die Christen weltweit -grundlegende Buch der Bücher noch einmal neu lesen und zu verstehen suchen? Ich hatte keine andere Wahl.