Von Stasi-Haft und möglichen Folgerungen für heute

50 Jahre sind seit dem Bau der Berliner Mauer und meiner anschließenden Verhaftung vergangen. In dem Buch „Such dir einen zweiten Mann“ ist dies nach Zugang zu den Akten mit vielen Dokumenten beschrieben. Es geht nicht um nachträgliche Verklärung von „politischem Widerstand“, – wir haben uns die Situationen damals nicht ausgesucht, sondern sind – so habe ich es immer gesehen – in sie hineingeführt; wir haben wie selbstverständlich reagiert, so naiv oder clever wie wir es als Theologiestudenten oder Lehrkräfte eben konnten. Für uns, besonders für meine Frau und mich, ist es eine große Erleichterung, dass es nach so vielen Jahren endlich Worte gibt dafür.

Die Frage, die mich umtreibt, heißt: wie gehen wir mit den Tatsachen und Erlebnissen möglichst so um, dass sie für die Zukunft fruchtbar werden und sich nicht wiederholen? Die Bundesrepublik erlebt z.Zt. mit Schrecken die Aufklärung einer zehnjährigen Mordserie an ausländischen Mitbürgern durch eine Neonazi-Gruppe. Die uralten Parolen haben sich nach so vielen Jahrzehnten immer noch nicht von selbst erledigt, obwohl das Regime nur 12 Jahre währte. Die SED regierte in Ostdeutschland 40 Jahre. Wie lange mag diese Ideologie nachwirken, wenn es an Auseinandersetzung damit fehlt?

Die Diktaturen haben, da sie gottlos antraten, eine andere Art heilige Begeisterung geschaffen, die emotional massenwirksam perfekt inszeniert war, die viel tiefer ging als uns bewusst und lieb war in Deutschland, wie wir rückschauend sehen. Diese Totalität macht es dem Einzelnen schwer, sich dem „ideologischen Sog“ zu entziehen und schließlich sich auch davon zu distanzieren. Deshalb ist allem Gefasel vom „Schlussstrich“ zu widerstehen, Irrtümer und Folgen der Diktatur sind zu benennen. Mit dem Rückzug ins Private, dem ständig geübten Verdrängen wird kein Problem gelöst, sondern nur auf nächste Generationen verschoben. Das verordnete Schweigen nimmt dem Menschen seine Kreativität und Lebensfreude, macht stumm und krank. Was hat wohl Russland und der Ostblock noch aufzuarbeiten? Der gewaltsame Versuch, die Welt zu verbessern, ist jedenfalls gescheitert.

Bei den Skrupellosigkeiten, die ich erlebt habe und zu reflektieren suche, kann ich nicht absehen von den heutigen Skrupellosigkeiten in der globalen Finanz- und Wirtschaftspolitik, die in aller Munde sind. Der Glaube an Geld und unbegrenzten Privatbesitz hat zu hemmungslosen Spekulationen und milliardenschweren Bankenpleiten geführt. Die Schulden übersieht kein Mensch mehr. Weltweit stehen Steuerzahler dafür ein. Von den Gewinnern, von Schuldigen, von Wiedergutmachung, wie in jedem anderen Schadensfall, ist keine Rede. Wirksame Schlussfolgerungen sind nicht mehrheitsfähig. Wenn es zu wenig internationale Gesetze gibt, gibt es dann auch keine Einsicht, selbst nicht unter den Christen in der Finanzbranche? Was bedeutet verbindliches Recht für menschliches Zusammenleben, für die Erhaltung der Erde und die Zukunft unserer Enkel? Jeder, der die Augen nicht verschließt, kann ahnen, wohin es führt, wenn wir unsere bisherige, solidarische Kultur aufgeben zu Gunsten von Privatinteressen.

Was sagt und tut Kirche in und nach all dem? Widersteht sie der Individualisierung? Ein weiteres Feld zum Umdenken: Wir erleben einen beispiellosen Umbruch: Seit etwa 1700 Jahren, Konstantin dem Großen, waren Volk und Kirche eins. Heute, bzw. in Zukunft, ist Kirche freiwillig, eine – „offensive“ – Minderheit wie sie mal am Anfang war.

Seit der sozialistischen Ära in Ostdeutschland ist eine Orientierung an jüdisch-christlichen Werten für viele total verpönt. Der Historiker Friedemann Stengel sagt(„Partizipation an der Macht“ in Zeitschr. für Theol. u. Kirche 2009, S. 412): „Die Quote von ursprünglich etwa 95% Kirchenmitgliedern in der DDR-Bevölkerung lag am Ende der DDR bei etwa 29% – ein europaweit einmaliger Prozess … Anzumerken ist der weitere Rückgang … nach 1990. Auf dem Gebiet Sachsen-Anhalts lag die Quote 2004 beispielsweise bei etwa 17%)“. Viele sind innerlich heimatlos geworden, Suchende, glauben an zusammengereimte „Patchwork-Religion“ oder eben an das Geld. Andere resignieren total. Offiziell versteht sich die Europäische Union als eine (aus dem Christentum kommende) Wertegemeinschaft. Und gerade diese Grundlagen sind heute radikal angefragt.

Darum versuche ich, unsere Wurzeln zu benennen und Zugänge zu erschließen, soweit ich das denn vermag. Auf dem Hintergrund meiner Erfahrungen von Haft und Diktatur, die mich eine Zeitlang weit weg geführt haben von allem Glauben, verstehe ich mich als ein suchender Theologe. Aus der jüdisch-christlichen Tradition, die unsere europäische Kultur einmal geprägt hat, frage ich nach möglichen Folgerungen für gegenwärtige Kirche und Gesellschaft. Unsere Bibel, das wird klar, wenn man sich damit beschäftigt, sucht nicht privates, sondern gemeinsames Heil.

„Such dir einen zweiten Mann“, dieses Motto wurde schon am Anfang meines Berufes 1966 für mich wichtig – die maskuline Formulierung war damals noch kein Problem. Die Bedeutung eines/r Vertrauten wurde in einer zunehmend privatisierenden Gesellschaft immer stärker. Sie ist Erfahrung und Zielpunkt dieses ganzen Aufschreibens, weil mit dem „zweiten Menschen“ in der Minderheit Kirche eine zentrale biblische Verheißung sichtbar wird, die erstaunliche Alternativen zu unserem ganzen privaten Denken und Trachten bietet: „Wo zwei oder drei in meinem Namen zusammen sind“, sagt Jesus, „da bin ich mitten unter ihnen“ (Matth. 18,20).

Warin, den 17.01.2012                                 Willi Lange