Von Stasi-Haft in Leipzig und mecklenburgischem Landpastorenleben

Als 1961 die innerdeutsche Grenze uns abriegelte, ging es, wie wir heute in Akten lesen, auch um Säuberungen von reaktionären Einflüssen an den Theologischen Fakultäten, besonders an der “Karl Marx Universität” in Leipzig. Die “inoffiziellen Mitarbeiter”(IM) der Staatssicherheit, von denen es in Leipzig mehr gab als an anderen Universitäten, bekamen Gewicht. Mit Beginn des Herbstsemesters 1961 wurden alle Studenten aufgefordert, “ein bedingungsloses Treuebekenntnis zur DDR zu unterschreiben und jederzeit zum Dienst mit der Waffe bereit zu sein”. Diese Auseinandersetzung wurde in meinem dritten Studienjahr einschließlich Lehrkörper in aufgeheizter Situation mit Prorektor, Parteileitung und Kreisleitung der Freien Deutschen Jugend (FDJ) der Universität quasi stellvertretend für die Theologische Fakultät geführt am 16.10. 61(wobei ich nicht in Erscheinung getreten bin). Die Forderung wurde einmütig abgelehnt. Für die Parteileitung war dies ein Grund, Schuldige zu suchen und “die Störfreimachung der Hochschule” durch die Staatssicherheit zu veranlassen. Friedemann Stengel: “Die Theologischen Fakultäten in der DDR …” hat die Hintergründe und Zusammenhänge, den Verlauf des Prozesses “Gegen Voigt und zwei andere” exemplarisch an Hand der Stasi-Akten dargestellt. Diese Veröffentlichung 1998 war Grund, dass dieser “Holzwurm”-Kreis, wie wir genannt wurden, sich 2001 traf und das Erzählen – erstmals – begann.

Heute weiß ich, dass gleichzeitig mit mir drei weitere Kommilitonen (Hans Voigt, Ulrich Wolff und Peter Wachsmuth) verhaftet wurden; – Wachsmuth war FDJ-Gruppen-Sekretär, der aus Protest gegen diese Verpflichtungserklärung sein Amt niedergelegt hatte; er kam nach 4 Wochen wieder frei. Damals war es eine mich zermürbende Frage, wer ist noch dabei und wer sagt nun was über wen aus? Aus heutiger Sicht stellt sich das so dar, dass der Freundeskreis, in dem ich mich damals bewegte, von der Staatssicherheit ideologisch kriminalisiert wurde. Wir waren ca. 8 junge Leute, die miteinander studierten, um einst als Pastoren in den jeweiligen Landeskirchen zu arbeiten. Wir lernten z.T. gemeinsam Sprachen, trafen uns in einem Gebetskreis, gingen zusammen in Konzerte, spielten Skat und bewegten in Gesprächen, was uns umtrieb. Mittelpunkt war auf Grund von Alter und Berufserfahrung als Großhandelskaufmann Manfred Werner. Hans Voigt galt scherzhaft als unser “Chefideologe”. Dazu gehörten als Mecklenburger auch der Bischofssohn und selbst spätere Bischof Hermann Beste und ich. U. Wolff und P. Wachsmuth gehörten nicht dazu.

Brisant wurde es für diesen Kreis, als unser Neutestamentler Dr. Günter Haufe seinem Schweizer Kollegen Dr. Uli Luz begegnete, der uns künftig mit theologischer Literatur half, die er in großem Umfang über Spenden finanzierte. Es ergab sich so, dass wir die Verteiler der Bücher an die Studenten und Lehrkräfte wurden, -heimlich natürlich. In dem Verfahren gegen uns spielte dieser Freundeskreis und die Buchaktion eine große Rolle, im Prozess überhaupt nicht, weil Professoren involviert waren. Aber es gab weitere Festnahmevorschläge in den Akten.

Das mich belastende Material stammte zum Teil von meinem Zimmerkollegen Manfred Potschka, IM “Stern”, mit dem ich 1956/57 zusammengelebt habe im Internat. Er war Epileptiker und sollte nicht alleine sein. Manfred war Waise und hat seine Kindheit in sowjetischen Kinderheimen zugebracht. Unsere Gespräche auf der Studentenbude über Mitarbeit von Christen in der DDR, den Ungarnaufstand und seine Niederschlagung, den Prozess gegen den Studentenpfarrer Siegfried Schmutzler u.a. dienten — was ich mir nie hab vorstellen können – zu meiner Verurteilung. Danach wurde er von seinem Führungsoffizier für eine Prämie vorgeschlagen, “da mit Hilfe des IM die wesentlichen Belastungen geschaffen wurden”.

Eine weitere Belastungszeugin war die Marxismus-Leninismus-Dozentin Gertraude Schnelle, die ebenso aus russischen Waisenhäusern kam und überzeugte Sozialistin war. Sie forderte uns zu offener Meinungsäußerung auf, ohne Nachteile befürchten zu müssen. Was wir nicht wussten war, dass sie nach dem Seminar als IM “Inge Rose” über uns berichtete. Nach der Wiedervereinigung hat mich sie um Verzeihung gebeten, – “wenn ich das könnte”.

Drei meiner Kommilitonen, die Mitglieder der FDJ und, wie wir heute wissen, IM's waren, erhielten trotz nicht bestandener Zwischenprüfungen ungerechtfertigte Leistungsstipendien. Ich habe deshalb mit jedem einzeln gesprochen, was als Hetze gewertet wurde. Das Gleiche galt auch im Blick auf den Mitangeklagten Ulrich Wolff, der als stellvertretender FDJ-Sekretär sein Amt niederlegte, und sich im Gespräch an mich wandte, weil sein Vater und Bruder gleichzeitig in Haft genommen wurden wegen Republikflucht.

Wenn man diese auf der Studentenbude, in Einzelgesprächen oder im Seminar gemachten Äußerungen zusammennimmt, dann wird der Wahnsinn der Anklage deutlich: Sie lautete auf “fortgesetzte, planmäßige, staatsgefährdende Hetze und Propaganda in schwerem Falle”. Nach Kenntnis der Akten, die ich nach vier Jahrzehnten einsehen konnte, ist völlig deutlich, dass es hier um ein politisches Urteil ging, das schon vor der Verhaftung zu lesen war: “Das Ziel bei der Liquidierung der feindlichen Gruppe (…) besteht darin, den Einfluss der negativen Kräfte an der Fakultät zurückzudrängen”, um “eine Stärkung der Positionen der progressiven Kräfte zu erreichen”. Aber damals wusste ich nicht, was gespielt wurde, sondern war dieser kompakten Maschinerie ohnmächtig ausgeliefert. Ich bekam das Gefühl, ein gefährlich Krimineller zu sein. Es war ein sehr langer Weg in der Aufarbeitung, um zu erkennen, dass es letztlich nicht um mich, bzw. uns Drei ging, um ungeschickte Äußerungen oder schuldhaftes Verhalten, das war alles vorgeschoben. Die Fakultät sollte wegen ihrer Aufmüpfigkeit zur Raison gebracht werden.

Der Reihe nach: Die Verhaftung war am 24.11.1961. Die bange Frage “Wer ist noch dabei, bzw. nicht?” klärte der Rechtsanwalt nach ½ Jahr, als ich ihn zum ersten Mal sah. Der konnte erst anfangen, nachdem alles bereits “in Sack und Tüten” war.

Das erste Verhör währte 15 Stunden. “Es endet erst mit der Unterschrift unter das Protokoll” und “wir haben Zeit”, sagten die Vernehmer. Nach einem Ringen um Änderungen unterschrieb ich schließlich um 22 Uhr alternativlos das mir Vorgelegte. Darin findet sich der Satz, dass “die unwahren Behauptungen von mir nicht der Würde eines Christen entsprechen”.

“Untersuchungshaft” legt nahe, dass hier objektiv untersucht wird und vielleicht auch Unschuld festgestellt wird. Aber das wäre westlich gedacht. Wer in Stasi-Haft sitzt, ist kein “mutmaßlicher Beschuldigter”, sondern ein Feind, einer der zu liquidieren ist (- mundtot zu machen?), einer der zu verurteilen ist. Die Gründe waren in monate- und jahrelangen Bespitzelungen, Recherchen und “Sachstandsberichten” vorher zu diesem Feindbild verdichtet und festgezurrt. Ich musste erleben, dass keine einzige Aussage der IM's ernsthaft in Zweifel gezogen, bzw. in den richtigen Zusammenhang gerückt oder gar zurückgenommen worden ist in den Verhören oder durch die Arbeit des Anwaltes. Hier ging es aus heutiger Sicht um die Vorbereitung eines Prozesses zur Abschreckung auf Anweisung der Partei. Da es keine objektiven Beweise gab, mussten eben Geständnisse her. Den Aussagen wurden einfach “negative, feindliche, angebliche …” Attribute beigegeben, die zu unterschreiben waren. Das klingt unglaublich. Darum ist es wichtig, Dokumente zu lesen.

Bedingungen der U-Haft: Akteneinsicht bekam der Anwalt im 7.Monat; erst dann konnten Angehörige und die Fakultät die angeblichen Gründe der Verhaftung erfahren. Meine Braut, die in Rostock lebte, konnte mich nach 6 Monaten für 10 Minuten besuchen, danach monatlich. Kein Seelsorger hatte Zutritt. Mit der Post, 20 Zeilen im Monat schreiben und empfangen, wurde das Schweigen trainiert: nichts über das Verfahren und nichts Negatives über die Anstalt. Beim Freigang war Sprechen verboten. Den zwei Mitgefangenen begegnete ich im selben Haus niemals bis zur Verhandlung. Zu lesen gab es die ersten 5 Monate nichts.

Die perfekt anmutende Isolation ist schwer vorstellbar. Aus früheren Gefängnissen, wo Kassiber heraus und herein gingen, ist sie nicht bekannt. Vergleichbar ist vielleicht die innerdeutsche Grenze: die
Streifenposten wechselten ständig. Wir wurden häufig verlegt. Menschliche Regungen waren, nach meinem Empfinden, den Vernehmern, Wachleuten und Richtern weithin abtrainiert. Sie waren Funktionäre, die funktionierten. Wie man dies alles lernen und effektiv betreiben kann, wurde auf der Stasi-Hochschule in Golm bei Potsdam gelehrt und erforscht, u.a. durch das Fach: “Operative Psychologie” (Meckl. Pommersche Kirchenzeitung vom 15.3.2009 S.1“Zertretene Seelen”). Das mag ahnen lassen, warum ich die “sogenannten Protokolle” (das ist jetzt mein Sprachgebrauch seit 21.6.11) unterschrieb und mich nicht wirksam dagegen wehren konnte. Im ganzen gibt es 35 davon.

Einen psychischen Zusammenbruch erlebte ich durch den aufgebauten, massiven Druck wie er sich vor allem in der Unterschriftenpraxis unter die “Geständnisse” zeigte: nach sechs Monaten gab ich eine Niederschrift ab, eine völlige Kapitulation mit Verlust von Glauben und Beruf, – Folge einer Umerziehung? Vor Gericht fand die Niederschrift keine Erwähnung. Das Wort “Gehirnwäsche” von dem Schriftsteller Solschenitzin war das erste, was mir zur Erklärung (1998) einfiel. Dies war die einschneidendste Erfahrung dieser ganzen Zeit! “Erkläre mal Ostern”, “erkläre mal Himmelfahrt” und ich konnte es nicht mehr. Der Entschluss reifte: ich werde wieder Schuhmacher.

Gerichtsverhandlung: nach 8 Monaten erging im Namen des Volkes das Urteil:
Voigt 3 Jahre, Lange 2 ¾ und Wolff 2 Jahre. Bis zum Berufungsurteil durch das Oberste Gericht vergingen zwei weitere Monate. Endergebnis: Voigt 2 Jahre, Lange 1 Jahr und 8 Monate, Wolff 1 Jahr.

Strafvollzug: Voigt und Lange wurden in das Haftarbeitslager Regis-Breitingen bei Altenburg verlegt. Wir arbeiteten im Braunkohlentagebau als Gleisbauarbeiter. Untergebracht waren wir in Baracken, 14 Häftlinge in einem Raum, nun mit Kriminellen. Als die Bischöfe von Sachsen und Mecklenburg uns beide dort besuchen wollten, – Genehmigung und Termin stehen in den Akten – , da wurden wir kurz vorher verlegt, Hans nach Waldheim und ich nach Torgau.

Die Geldsammlung: Zwei Lehrkräfte der Fakultät haben heimlich Geld gesammelt für die Anwälte. Dies blieb durch IM's nicht verborgen. Für Dr. Ingetraut Ludolphy war die Folge, dass eine Professur für sie unmöglich war und ihr Lebenswerk in der DDR nicht gedruckt werden konnte. – Dr. Ulrich Kühn wurde 1964 der Universität verwiesen.

Die Schweigeverpflichtung war der letzte Akt vor der Entlassung (24.7.1963). Sie war bekannt in der Bevölkerung aus der NS-Zeit, aus Krieg und Lagern, wurde stillschweigend von jedem respektiert. Es gab keine Situation für entspanntes Erzählen und Fragen. Ahnen lässt sich, dass mein Berufswechsel schwer verständlich blieb für Angehörige und Freunde. Wie verheerend Sprachlosigkeit und Schweigen nachgewirkt und krank gemacht haben, wird erst nach der Wiedervereinigung deutlich und nach der Aufarbeitung.

Nach Heirat und einem Jahr als Schuhmachergeselle, in dem Freunde uns sehr begleiteten, konnte ich das Studium am Theologischen Seminar in Leipzig 1966 beenden. Es folgte Predigerseminar, Vikariat bei Dr. Heinrich Rathke, seit 1967 Vikar und Pastor in Dreveskirchen bei Wismar bis 1999.

Aus der Chronik der Kirchgemeinde ist einiges in das Buch eingeflossen:

  • Das Ende der Volkskirche, wie wir es in Bibelstunden, Gottesdiensten und vor allem durch den ideologischen Druck der Schule besonders im Konfirmandenunterricht 1973 erlebten.
  • Neue Formen für die Minderheitensituation entstanden mit anderen Gemeinden zusammen, Konfirmandenwochenenden, Seminararbeit und vor allem die Familienrüstzeiten.
  • Jugend war vorwiegend übergemeindlich auf Rüstzeiten aktiv, 6 Jahre mit Kontakt aus dem Allgäu. Es gab Umweltwochenenden, Friedensdekaden, sowie“Operative Personenkontrolle” durch die Stasi. Wir waren Grenzgebiet zur Ostsee.
  • Einige “Ausreisewillige” haben sich engagiert, den ökumenischen Prozess für Bewahrung der Schöpfung, Gerechtigkeit und Frieden und das Gemeindeleben mitgestaltet.
  • Besondere Ereignisse waren die übergroße Versammlung des Neuen Forum in St. Nikolai in Wismar Reformationstag 1989, wo ich mich auch vorgewagt habe, und die Demo in Wismar. Dazu gehört die Einwohnerversammlung der kleinen Dorfgemeinde am 9.11.89 in Blowatz in der Gaststätte.
  • Einige Streiflichter des Umbruchs nach der politischen Wende sind auch festgehalten.

Zwei Ereignisse nötigten, mich über die Hafterfahrungen erstmals schriftlich zu äußern:

  • Das war der Rehabilitierungsantrag mit der Formulierung meiner eigenen Position für den weiteren Umgang mit den “Tätern”; – Frau Schnelle hat darauf reagiert.
  • Mein Rentenantrag brauchte Klarheit, wie die Haftzeit und das Schuhmacher-Jahr in den Rentenverlauf einzubeziehen wären, – Dinge, über die bis dahin nie nachgedacht worden war.