Kommentar

Dass ich, meine Familie und die Kirchgemeinde nicht nur ständig observiert, sondern mit vielen Nadelstichen versehen wurden, wussten und merkten wir; damit lebte man in der Kirche. Aber dieser Stempel nach 25 Jahren “Staatsverbrecher, vorbestraft” übertraf doch alle Befürchtungen. Als ich diese Karteikarte 2004 in einer Nachlieferung der über mich vorhandenen Akten der Staatssicherheit von der Birthler-Behörde erhielt, konnte ich es kaum fassen. Nun begann ich mir einen Reim auf Zusammenhänge zu machen, die Jahrzehnte im Dunkel lagen und die mich so nachhaltig geprägt haben. Warum man uns z. B. bei goldenen Konfirmationen, Gemeindefesten oder Faschingsfeiern die Nutzung von Gaststätten polizeilich verweigerte bzw. verbot, das wird nun klar. Auch wenn die Notiz “streng geheim” ist, gehe ich davon aus, dass mindestens alle offiziellen Mitarbeiter der Staatssicherheit im Bezirk, im Kreis und in der Kommune sie kannten, also alle, die Entscheidungen über mich, meine Frau, unsere Kinder sowie über die Kirchgemeinde zu treffen hatten. Die Karteikarte enthält eine zugespitzte, verschärfende Interpretation, die zeigt, wie ich als Pastor kriminalisiert worden bin.

Die beiden Dokumente zeigen, dass es in der DDR neben dem offiziellen Recht auch ein geheimes, inoffizielles Recht gab, nach dem die Diktatur funktionierte. Sie sind ein Beispiel für Ideologie, die sich über Recht hinwegsetzt. Ein ideologisches (Vor-)Urteil, wie ich es im Prozess erlebt habe, wird auch nach 25 Jahren ohne Blick für die Realität einfach wiederholt und abgeschrieben, denn “die Partei hat immer recht” (Lenin hatte ja bereits 1922 das entscheidende Wort über die Bourgeoisie und Geistlichkeit gesprochen). Was in der DDR jedem kriminellen Verbrecher zugebilligt wurde, dass er nach Verbüßung der Haft wieder ein volles Mitglied der Gesellschaft werden kann, das hat man mir als einem politisch Verurteilten nicht zugebilligt: Ich blieb “Staatsverbrecher, vorbestraft”. Wenn die DDR weiterbestanden hätte, wäre das wohl lebenslang so geblieben.

Für die Aufarbeitung mag es heute vielen zu gute kommen, dass diese Dokumente nicht vernichtet worden sind wie viele andere, sondern veröffentlicht werden können. Wie viele solcher ideologischen (Vor-)Urteile mag es geben, die nicht aufgeschrieben sind, die aber in den Köpfen und Herzen von Menschen wirken, wenn sie nicht als solche erkannt und bewusst abgelegt werden!